Mimì & Musette

Aus Henri Murgers „La vie de bohème“

„Mimì war ein reizendes Mädchen, das den plastischen poetischen Idealen Rodolfos besonders entgegenkommend und gelegen sein mußte. Zweiundzwanzigjährig, klein, delikat … Ihr Angesicht glich dem Entwurf zu einem aristokratischen Antlitz; ihre Züge waren von wunderbarer Feinheit … Das Blut der Jugend kreiste warm und lebhaft durch ihre Adern und färbte mit rosa Tönen ihre transparente Haut, die von dem samtigen Weiß der Kamelie war. Diese angekränkelte Schönheit verführte Rodolfo … Aber was seine tolle Verliebtheit in Fräulein Mimì noch steigerte, waren ihre Händchen, die sie, ungeachtet aller häuslichen Verrichtungen, weißer zu erhalten wußte, als die Göttin des Müßiggangs die ihren …“ „…Gustave Colline, der große Philosoph; Marcel, der große Maler, und Schaunard, der große Musiker – wie sie sich gegenseitig betitelten – besuchten regelmäßig das Café Momus, wo man sie ›die vier Musketiere‹ nannte: Denn sie waren unzertrennlich. In der Tat kamen sie, spielten sie und entfernten sich wieder stets gemeinsam, oft ohne die Rechnung zu begleichen, und immer in einem harmonischen Akkord, der dem Orchester des Konservatoriums würdig gewesen wäre … Fräulein Musette war ein schönes Mädchen von 20 Jahren … Sehr viel Koketterie, ein bißchen Eitelkeit und keinerlei Orthographie … Die Wonne der abendlichen Gastereien des Quartier Latin … Ein steter Wechsel zwischen blauer Nobelkutsche und Omnibus, zwischen Rue Breda und Quartier Latin. ›Und was wollen sie? – Von Zeit zu Zeit habe ich es nötig, die Luft dieses Lebens zu atmen. Mein tolles Dasein ist wie ein Lied; jeder meiner Liebschaften ist eine Strophe – aber Marcel ist der Refrain –‹“

„Mimìs Stimme hatte einen Klang, der Rodolfo zu Herzen drang wie das Läuten einer Totenglocke … So spürte er für sie eine eifersüchtige, phantastische, bizarre, hysterische Liebe … Zwanzigmal waren sie soweit, auseinanderzugehen. Man muß gestehen, daß ihr Dasein einer wahren Hölle glich. Nichtsdestoweniger hielten sie ein, in gegenseitigem Verständnis, inmitten der Stürme ihrer Zwistigkeiten, um in der frischen Oase einer Liebesnacht Atem zu schöpfen … doch am nächsten Morgen schon vertrieb ein aus dem Nichts erwachsener Kampf die aufgescheuchte Liebe. So – wenn man das ein Leben nennen mag – verlebten sie frohe Tage und ach so schlimme, stets die Trennung vor Augen … Musette besaß – aus angeborenem Familienübel oder aus sinnlichem Instinkt – das Genie der Eleganz … Dieses eigenartige Geschöpf verlangte wohl, kaum geboren, nach einem Spiegel. Intelligent und schlagfertig, aufbegehrend vor allem gegen jeden Schein von Tyrannei, kannte sie nur eine Regel: Die Laune … Gewiß war Marcel der einzige Mann, den sie liebte – vielleicht, weil er als einziger imstande war, sie duldend zu machen – doch der Luxus war Daseinsbedingung für sie.“

„… Zu jener Zeit waren die Freunde schon seit längerem Witwer. Musette war wiederum eine gleichsam offizielle Persönlichkeit geworden. Seit drei oder vier Monaten hatte Marcel sie nicht mehr getroffen. Und ebenso auch Mimì. Rodolfo hatte über sie nicht mehr sprechen gehört, außer von seinen eigenen Lippen, wenn er allein war. Eines Tages, als Marcello insgeheim ein von Musette vergessenes Band küßte, sah er, wie Rodolfo ein Häubchen verbarg – das rosa Häubchen, das Mimì zurückgelassen hatte: ›Nun gut‹, murmelte Marcel, ›ihm geht es so elend wie mir.‹“