Gedanken zur Konzeption von Johannes Schaaf

Zu Cavaradossis Vorgeschichte steht bei Sardou, dass er den Jesuiten von Sant’ Andrea della Valle anbietet, in ihrer Kirche ein Fresko zu malen. Damit will er die Regierenden von seinen tatsächlichen politischen Überzeugungen ablenken. Cavaradossi hat Ähnlichkeit mit Dramen-Figuren Georg Büchners. Er versteht am Ende jedoch, warum er lebt. Seine anfänglich unverbindliche erotische Beziehung zu Tosca zerrt Scarpia aus ihrer Isolation. Ihre Beziehung bekommt eine Geschichte. Sie hätte eine Liebesgeschichte werden können. Die Oper Tosca ist auch eine Künstlergeschichte. Tosca und Cavaradossi gehen zugrunde, weil sie zu spät realisieren, dass die Wirklichkeit nicht nur für andere gilt, sondern auch für sie. Sie glaubten sich als Künstler unverwundbar. Scarpia hingegen ist tatsächlich nicht verwundbar, aber er kann getötet werden in einer Kurzschlusshandlung. Der Dreikampf – Scarpia, Cavaradossi, Tosca – ist für Scarpia entschieden aufregender als alle polizeilichen Überwachungen. „Aber Scarpia ist kein Dämon – er ist ein Mensch, der vor Kälte glüht. Auch das ist Liebe, wenn auch keine ‚häusliche‘.“ (Johannes Schaaf). Die Liebe und Leidenschaftlichkeit, die ihm Puccini zugesteht, hat etwas von Shakespeares „Terror der Liebe“.

Die Zeit der Handlung ist festgelegt. 1. Variante: 17. Juni 1800, der Tag der Flucht des historischen Angelotti aus der Engelsburg. Im September 1799 war Rom in die Hände der königlich-neapolitanischen Truppen gefallen. Maria Carolina, Gattin des schwächlichen Königs von Neapel, annektiert Rom und rechnet ab. In einer Säuberungswelle werden politische Gegner als Verräter und Kollaborateure gejagt. Zehntausende werden ohne Urteil verhaftet, Tausende nach Folterung durch ihren Polizeichef umgebracht. Wichtigster politischer Gefangener ist Cesare Angelotti, der von den Franzosen zum Konsul von Rom ernannt worden war.

Die Zeit der Handlung ist festgelegt. 2. Variante: 14. Juni 1800, der Tag der Schlacht bei Marengo, einem Dorf in der italienischen Provinz Alessandria. Die Österreicher entschieden die Schlacht gegen Napoleon Bonaparte im Zweiten Koalitionskrieg für sich und ließen den Sieg sofort verkünden. Ein neuerlicher Angriff durch die französische Kavallerie brachte die Wende. Die Franzosen waren Sieger geworden. Die Handlung der Oper beginnt mit dem flüchtigen Angelotti, die musikalische Handlung mit wuchtigen Orchesterschlägen, deren Gewalt mit Scarpia in Verbindung gebracht werden kann. Angelotti kehrt nicht zurück in die Handlung, nachdem Cavaradossi ihn aus der Kirche geführt hat. Sein Selbstmord wird berichtet. Die Jagd auf politische Gegner ist Scarpias Beruf, und den beherrscht er mit absoluter Perfektion und Präzision. Die Begierde, sich die Sängerin Tosca zu unterwerfen, bekommt durch Angelottis Flucht und die Hilfe Cavaradossis eine reale Chance. Die tödlich endende Dreiecksbeziehung zwischen Tosca, Cavaradossi und Scarpia während einer politischen Säuberungswelle ist das Zentrum der Handlung, nicht das historische Detail um 1800. Das Publikum ist gegenüber Tosca und Cavaradossi in die Lage des Wissenderen versetzt. Das Mit-Leiden während Cavaradossis Folterung oder Toscas Schmerz an der Seite des getöteten Geliebten stellt sich zusammen mit der Durchschaubarkeit der Ereignisse her. Hier agieren im Unterschied zu Sardous Drama bis auf Angelotti ausnahmslos Personen, die an der politischen Macht in irgendeiner Weise partizipieren, jedoch selbst nicht die Macht haben. Sie haben sich gewissermaßen „eingerichtet“ im System. In dem durch Angelottis Flucht ausgelösten Drama geraten Tosca und Cavaradossi in die Mühlen des Systems, obwohl sie vorrangig aus persönlichen und ethischen Motiven handeln. So ist die Oper Tosca keine musikalische Schnulze für Kleinbürger, sondern ein menschliches, berührendes Drama der Künstler, die zwar das Leben in ihrer Kunst reflektieren – aber nicht das wirkliche Leben.