Von der Fähigkeit, seinen eigenen Weg zu gehen

Florentine Klepper (Regie) und Martina Segna (Bühnenbild) über „Der fliegende Holländer“

Die Geschichte von »Der fliegende Holländer« scheint auf den ersten Blick ganz einfach: Ein Seefahrer besteht darauf, trotz Sturms ein Kap zu umsegeln, und droht damit, es notfalls bis in alle Ewigkeit zu versuchen. Ist so ein Verhalten heute wirklich noch ein Problem?

Florentine Klepper Wir haben es mit einer Sage zu tun, in der ein Mensch es wagt, Gott herauszufordern, und damit den Platz, der ihm im Universum zugeteilt ist, anzweifelt. Als Folge dieses Machtkampfes verliert er sein Menschsein und ist dazu verdammt, ewig zu leben. Erlösung ist nur möglich, wenn er eine Frau findet, die ihm die Treue bis in den Tod hält. Dadurch würde er wieder menschlich und könnte sterben.

Martina Segna Der Holländer interessierte uns als Figur, aber auch der Mythos, der ihn umgibt, die Geschichte, die sich Generation um Generation wieder erzählen. Er scheint eine Urangst oder Ursehnsucht in uns zu berühren.

Florentine Klepper Es ist dieser unbezwingbare Wille, dieser Freiheitsfanatismus, seinen eigenen Weg zu gehen, der dann umschlägt in einen Fluch, nicht mehr ankommen zu können. Das ist das Faszinierende an ihm: Auf einmal überwiegt der Wunsch nach Heimat. 

Trotzdem haben wir uns aber in der Auseinandersetzung auch sehr an dem Stück gerieben, insbesondere an den Szenen des Stückes, die mit Wagners Lieblingsthemen „Treue“ und „Erlösung“ zu tun haben. Es gibt unterschiedliche Lesarten, was Wagner mit der Formulierung „treu bis in den Tod“ genau meint.

Florentine Klepper Auf der Stückebene und im Kontext der Entstehungszeit würde ich den Treuebegriff eng auslegen, ich denke, damit ist sowohl Jungfräulichkeit als auch eheliche Treue bis hin zum gemeinsam herbeigeführten Tod gemeint. Es muss etwas Unverrückbares sein, dieser Preis, den der Holländer fordert, sonst wäre er nicht so lange daran gescheitert. Der Holländer erwartet von Senta, dass sie bereit ist, sofort mit ihm zu sterben.

Martina Segna Daran haben wir uns sehr gebissen! Wir haben diese Bedingung nicht als heutig empfunden.

Florentine Klepper Wenn wir uns heute den Raum geben zu sagen, bedingungslose Treue heißt füreinander einzustehen – wobei jedes Paar für sich selbst bestimmt, wie es das konkret auslegt – dann ist das Thema aktueller denn je! Wenn Treue aber nur das Opfer der Frau einfordert, es kein gegenseitiges Agreement ist, handelt es sich um eine Form von Selbstaufgabe.

Bei Wagner lautet die Regieanweisung: „Im Glührot der aufgehenden Sonne sieht man über den Trümmern des Schiffes die verklärten Gestalten Sentas und des Holländers sich umschlungen haltend dem Meere entsteigen und aufwärtsschweben.“ Ich denke, Senta geht schon davon aus, mit ihrem Tod eine bessere Zukunft – oder überhaupt eine – für sich und den Holländer herbeizuführen. Die Frage ist nur, was heute eine Übersetzung dafür sein könnte? Der Himmel? Ein anderes politisches System?

Florentine Klepper Die Frage nach der Übersetzung setzt für mich noch eine andere voraus, nämlich, ob es eine gemeinsame Erlösung überhaupt geben kann. Wird der Holländer erlöst, ist Senta tot. Stirbt Senta nicht, muss der Holländer weiterleben. Dieses Dilemma steht einer eindeutigen Übersetzung erst einmal im Weg.

Was war dann konkret der Ausgangspunkt für die jetzige Konzeption?

Florentine Klepper Zum einen waren das die Figuren. Da wir Senta als „normale“ Frau, nicht als Kranke oder Psychopathin, und gleichzeitig den Holländer als eine mythische Gestalt erzählen wollten, lag es nahe, die Geschichte aus Sentas Sicht anzulegen. Der Holländer als Projektion entspringt dabei ihrer Fantasie, genährt durch Erzählungen aus der Kindheit.

Martina Segna Dazu kam natürlich die Herausforderung mit dem Erlösungsschluss. 

Florentine Klepper Die Frage hat uns von Anfang an beschäftigt: Was genau verstehen wir unter Erlösung? Ich persönlich weigere mich, von Erlösung zu sprechen, wenn eine Frau dafür sterben muss. Also stand relativ bald die Frage im Raum, wie kann Senta überleben? Und was hat das für Konsequenzen? Wir haben uns daher entschlossen, die Geschichte aus der Perspektive der überlebenden Senta zu erzählen, und zwar in Form einer Rückblende …

Martina Segna … aber keiner filmischen, sondern einer, die extrem verzerrt ist …

Florentine Klepper … die sehr subjektiv ist, sehr weit zurückgeht. Das macht es möglich, dass Dinge auch ungereimt, unerklärt bleiben, weil sie schon lange her sind und man sie einfach in einer anderen Lebensphase abgespeichert hat. Wir haben uns überlegt, was der Grund sein könnte, dass jemand an den Ort zurückkehrt, von dem er weggegangen ist, und uns entschieden, vor den Beginn der Handlung das Begräbnis Dalands zu setzen. Sei es gesellschaftliche Konvention oder kindliche Sehnsucht nach Versöhnung – Senta bewegt sich noch einmal an den Ort ihrer Kindheit zurück.

Martina Segna Wir haben die Handlung an die Küste verlegt, an einen Ort, den sie in ihrer Kindheit oft besucht hat. Sie hat eine Verbindung zu dieser Landschaft, die für sie Heimat und Sehnsuchtsort zugleich ist.

Florentine Klepper Durch die starken Gefühle, die sie bei der Beerdigung erlebt, verliert sie sich in Erinnerungen, gerät in einen alb-traumhaften Zustand. Wahres und Empfundenes verschränken sich.

Martina Segna Auf der Bildebene bedeutet dies, dass sich alles aus dem Ausgangsbühnenbild – der Landzunge – entwickelt, alle anderen Elemente entstehen aus diesem Raum. Die Bilder ihrer Erinnerung sind verzerrt, fragmentarisch, angedeutet, nicht wirklich fertig ausformuliert. Die Proportionen sind verschoben, Zeitebenen vermischen, Figuren verselbstständigen sich.

Florentine Klepper Wir erzählen den ersten Aufzug aus der Sicht der Kinder-Senta, den zweiten aus der einer jungen Frau und den dritten aus der Perspektive einer Braut, die kurz vor der Hochzeit steht.

Wieso wollte Senta ihren Herkunftsort verlassen?

Florentine Klepper Das hat verschiedene Gründe.

Martina Segna Es fällt auf, dass sie keine Mutter hat.

Florentine Klepper Zur Entstehungszeit der Oper war es nicht ungewöhnlich, dass der Vater einen sehr wohlhabenden Bräutigam für seine Tochter suchte. Aber in der heutigen Übersetzung macht dieses Verhalten es meiner Meinung nach fast unmöglich, Daland als sympathische oder empathische Figur zu erzählen. Es wirkt fast so, als würde er seine Tochter verkaufen, und das wiederum lässt Rückschlüsse auf ein gestörtes Vater-Tochter Verhältnis zu bzw. gibt Einblick in die Gemeinschaft, in der Senta lebt. Hier hat sich die Rezeption ganz stark geändert. Senta ist unfähig, sich in dieser Gemeinschaft zurechtzufinden. So fremd, wie ihr die Männerwelt ist, bleiben ihr auch die weiblichen Vorbilder, die funktionieren und letztendlich von ihr erwarten, sich einzureihen. In der Umgebung hält sie erstaunlich mutig und standhaft an der Idee einer anderen Liebe, eines anderen Lebensmodell fest.

Ist der Holländer für Senta die große Liebe?

Florentine Klepper Der Holländer ist durch sein Verhältnis zur Freiheit für Senta eine absolute Identifikationsfigur. Die Liebe passiert ihr, ist nicht Ziel.

Martina Segna Der Holländer ist Begleiter in der kritischen Phase …

Florentine Klepper … als es darum ging, sich von der eigenen Familie abzunabeln. Deswegen haben wir uns dafür entschlossen, die Geschichte in eine Zeit zu verlegen, als es noch nicht selbstverständlich war, dass Frauen alleine leben, sondern der Weg aus der Familie direkt in die Ehe führte. Senta braucht den Holländer, um vom Vater loszukommen. Doch dann trennt sie sich vom Absolutheitsanspruch des Holländers, um bei sich selbst anzukommen. Der Erlösungsschluss steht bei uns für die Emanzipation Sentas, die Fähigkeit, jetzt ihren eigenen Weg zu gehen.

Martina Segna Eigentlich haben wir in unserer Version fast zwei Erlösungen, sie verlässt zweimal den Ort ihrer Kindheit. Beim ersten Mal – das wir nicht zeigen, aber voraussetzen – ist es eine Flucht, beim zweiten ein Friedenschließen mit der als negativ empfundenen Kindheit.

Die Fragen stellte Sophie Becker