Überlebensgroß

Gespräch mit dem Modeschöpfer Christian Lacroix

Christian Lacroix ist nicht nur ein weltbekannter Modeschöpfer, er entwirft seit den 1980er Jahren auch Kostüme für Opern-, Theater- und Ballettproduktionen. Im Gespräch mit Martin Riegler erläutert er, dass die Arbeit für den Laufsteg und die Opernbühne gar nicht so verschieden ist, und verrät, aus welchen Materialien seine Kostüme für Otello gemacht werden und welche Stilepochen sie kombinieren.

Sie haben einmal gesagt, dass es ein Kindheitstraum von Ihnen war, Kostümbildner zu werden. Warum hat es letztlich relativ lange gedauert, bis dieser Traum Wirklichkeit wurde?

Christian Lacroix Ich war als Kind von jeder Art von Darbietung fasziniert, von allem, was mir das Gefühl einer Flucht aus dem täglichen Leben und der Wirklichkeit ermöglichte; von allem, was mich in Phantasiewelten und andere Epochen führte: armselige Straßentheater im Süden Frankreichs, Opernfestspiele im Sommer, Filme, etc., jede Art von „Show“, auch Fernsehen – all das in den 1960er Jahren. Und ich habe immer eine Menge Skizzen angefertigt, Hunderte von Blocks voll, seitdem ich fünf Jahre alt war, bis heute, vor allem Kostüme, weit mehr als Mode. Damit eröffnete ich mir gleichsam eine andere Möglichkeit, als Kostümbildner zu arbeiten, mehr denn als Couturier, zumal auch die 1980er-Jahre eine Ära opernhafter, theatralischer Kleider waren. Ich war in meinen Dreißigern, als ich meine ersten Kostüme für die Opéra Comique in Paris und in Nantes gestaltete. Vielleicht ein wenig spät, ja, aber nicht so sehr. Denken Sie daran, dass meine Generation eine formale, traditionelle Ausbildung mit klassischen Studien erhielt, um unsere Eltern zu erfreuen und zu beruhigen. Ich habe Latein, Griechisch und Kunstgeschichte studiert, zunächst an der Universität von Montpellier und dann in Paris an der Sorbonne und an der École du Louvre … Sehr langweilig, zumal ich etwas Verrücktes wie eine Art „englischer Dandy-Atmosphäre“ erwartet hatte; das war nicht der Fall. Museen waren hauptsächlich staubig, und ich konnte mir nicht vorstellen, als Kurator zu arbeiten. Ich war 25, 26 oder 27 Jahre alt, als ich mein Studium abbrach und, dem Rat von Freunden aus der Modebranche folgend, begann, meine Entwürfe Leuten aus Modehäusern und Theatern zu zeigen. Herr Lagerfeld hat mich sehr ermutigt und mich seinen Freunden empfohlen, die am Theater arbeiteten. Aber der erste Job, den ich bekam, war bei Hermès als Praktikant im Jahr 1978 oder 1979. Und im Jahr 1981 wurde ich dann als künstlerischer Leiter an das Haus Jean Patou engagiert, das in den 1920er Jahren gegründet worden war. Alles ging damals sehr schnell! Ein paar Saisonen später sah ein Regisseur, Jean-Luc Tardieu, meine Couture-Modelle im Fernsehen und schrieb mir, er erkenne meine Zukunft als Kostümbildner in dieser Kollektion, und so bat er mich, für seine Inszenierung von Edmond Rostands „Chantecler“ im Jahr 1986 in Nantes die Kostüme zu entwerfen.

Was macht Oper und Theater so faszinierend?

Christian Lacroix Oper und Theater sind überlebensgroß. Sie bringen uns in eine andere Dimension. Sie gehen weit über das tägliche Leben hinaus.

Ist die Opernbühne mit dem Laufsteg zu vergleichen? Letztendlich sind beide eine Art von Bühne mit Darstellern.

Christian Lacroix In gewisser Weise, ja. Insbesondere zu meinen Anfängen war Mode exzentrisch, extravagant, inspiriert von Bühnenheldinnen, Erzählungen und Filmen, von Literatur, historischen Figuren und Gemälden. Mode soll Menschen dabei unterstützen, ganz sie selbst zu sein, durch das Ideal eines Erscheinungsbilds: Sie zeigen ihre Persönlichkeit, indem sie eine Figur darstellen, die sie selbst wählen. In den 1980er und 1990er Jahren waren Supermodels Schauspielerinnen noch ähnlicher. Sie wollten die Inspiration dahinter und die Absicht der Kollektion kennen und verhielten sich auf dem Laufsteg entsprechend dem, was ihnen die Designer sagten. Das ist heute im Allgemeinen vorbei – aber es scheint bei einigen jungen Designern wiederzukehren. 

Sie haben bereits die Kostüme für mehrere Verdi-Opern gestaltet, aber dies ist Ihr erster Otello. Wie nähern Sie sich dieser Oper als Kostümdesigner?

Christian Lacroix Ich bin kein Regisseur. Als Kostümbildner höre ich mir an, was der Regisseur – in unserem Fall Vincent Boussard – im Sinn hat und mich fragt. Diese Produktion wird eine Mischung aus traditionellen, historischen Kostümen und zeitgenössischen bzw. „zeitlosen“ Elementen. Als ich die Kostüme für Shakespeares Othello in Paris in den frühen 1980er Jahren für Anne Delbée entwarf, war das völlig anders. Ihre Vision war dunkler: Alles war schwarz, mit Fleisch- oder Metall-Akzenten und viel Patina. Vintage-Biker-Ledergewand verwandelte sich in ein Renaissance-Outfit, auch Flickwerk von alten Kostümen war dabei. Diese Produktion wird graphischer, gepflegter, reiner. Vielleicht sollte ich mich eines Tages selbst als Regisseur versuchen, mit meinem eigenen Ansatz, aber momentan trage ich lediglich dazu bei, die Auffassung und Phantasie der Regisseure zu veranschaulichen.

Ihre Haute Couture und Ihre Bühnenkostüme waren bislang elegant, oft recht opulent und auch sehr farbenreich. Ihre Figurinen für Otello aber zeigen eine Dominanz dunkler Farben, Schwarz und Weiß, Grau, Silber, altes Gold ... Braucht eine dunkle Geschichte dunkle Bühnenbilder und Kostüme?

Christian Lacroix Schwarz ist die wahre Farbe, sie ist die Summe aller anderen Farben. Sie hat die Anmutung von etwas Scharfem und Dynamischem, wie eine Tinten-Skizze. Nur die erste Hälfte der Oper wird so dunkel sein, die zweite ganz in Rot, Orange und Fuchsia gehalten, mit Damast, Samt und Brokat.

Vincent Boussard erklärte, dass er eine spezifische „Zeit“ für Otello mithilfe der Kombination von Elementen aus verschiedenen Zeiten zu finden suche. Welche Epochen und Elemente werden Sie kombinieren, um diese besondere Zeit zu kreieren, und mit welchen Materialien und Accessoires?

Christian Lacroix Ich habe ihm einerseits eine ganze Menge von Gemälden aus dem 16. und 17. Jahrhundert und andererseits zeitgenössische Mode gezeigt. Wir haben viele Arten von edlen Stoffen dabei. Wir kombinieren alte Opernkostüme und Uniformen mit hochwertigem Taft, Samt und Satin, etwas Silber und Gold-Lamé, einige werden mit Neopren umsäumt, um graphische Konturen zu erzielen, dazu moderne Drapierungen, für eindrucksvolle Silhouetten.

Richten Sie Ihr Augenmerk bei der Gestaltung der Kostüme auf die Figuren Otello, Desdemona, Iago etc. oder deren Darsteller? Anders gefragt: Wie wichtig ist der spezifische Darsteller für das Kostümdesign?

Christian Lacroix Diesen Fehler habe ich als Anfänger gemacht: ausschließlich auf die Sichtweise des Regisseurs zu hören. Für „Così fan tutte“ zum Beispiel wollte der Regisseur Fiordiligi, Dorabella, Ferrando und Guglielmo sehr jung – ziemlich moderne Jugendliche, halb nackt an einem italienischen Strand. Dann kamen wir darauf, dass die Besetzung hierfür weder das richtige Alter noch das entsprechende Profil oder Auftreten besaß. Für mich ist es heute unmöglich, Kostüme zu gestalten ohne die Besetzung zu kennen. Sie müssen die Konturen, den Stil und die Persönlichkeit des Sängers oder Schauspielers im Auge haben, um an der Figur, die er spielt, arbeiten zu können. Schwierig wird es, wenn man es mit mehreren Besetzungen zu tun hat oder mit Repertoirestücken, die über viele Jahre von vielen verschiedenen Künstlern gespielt werden.

Otello ist ein mächtiger Mann – aber er ist auch schwach. Ist es möglich, die Ambivalenz seines Charakters und dessen Entwicklung im Laufe der Oper mittels des Kostüms auszudrücken?

Christian Lacroix Gewiss: mit einer Art Harnisch-Mantel und einem „Schutzpanzer“ aus Brokat und dazu dem Effekt der nackten Brust darunter oder einem sehr dünnen Hemd, gleich einer zweiten Haut, um diesen Ausdruck von Macht und Schwäche zu erzielen. 

Obwohl Details von Opernkostümen für das Publikum weit weniger sichtbar sind als bei Haute Couture in einer Modenschau, arbeiten Sie offenbar sehr detailgenau für jede einzelne Person auf der Bühne. Sind Sie detailverliebt?

Christian Lacroix Gefragt nach dem Unterschied zwischen Mode und Bühnenkostümen, habe ich stets geantwortet, dass Mode aus der Ferne unauffällig sein kann, aber aus der Nähe exquisit, besonders und raffiniert wirken muss, während Bühnenkostüme ausdrucksstark, grell und aus der Ferne hervorstechend sowie bei Weitem nicht so detailgenau ausgearbeitet sein müssen. Aber ich habe das Glück, in der Lage zu sein, mit den besten Häusern arbeiten zu dürfen wie der Pariser Oper, der Comédie-Française und jetzt in Salzburg, wo die Werkstätten derartige Fähigkeiten und Kenntnisse besitzen, dass sie mit den Materialien so umgehen können, wie das bei Couture der Fall ist. Infolgedessen kann ich für die Bühne genau so gestalten, wie ich das für Laufstege und Salons gewöhnt war. Ich denke, das sieht man aus der Ferne – und es ist auch viel besser so für die Künstler auf der Bühne. 

Die Fragen stellte Martin Riegler anlässlich der Premiere der Koproduktion bei den Osterfestspielen Salzburg 2016